Epistemologie seit Ficino: Ist Erkenntnis ein mind-body-Problem?
[Ungarisch: Episztemológia Ficino óta: test-lélek probléma-e a megismerés? [
Der Hintergrund meines Themas ist die Beobachtung, daß die cartesische Erkenntnistheorie, wie sie in der Logik von Port Royal dargestellt wird, annimmt, daß Begriffe (Ideen) durch äußere Anreize der Sinne ausgelöst werden, aber – daher der Name Rationalismus – exklusiv im Inneren des Verstandes gebildet werden, ohne daß – wie dies in der aristotelisch-scholastischen Epistemologie dargestellt wurde – irgendwelche körperlichen Bilder im Verstand verarbeitet werden müßten. Damit wurden nach allgemeiner Interpretation die Bereiche des Körpers und des Geistes klar getrennt und somit auch die Paradoxien der geistigen Verarbeitung körperlicher Einflüsse umgangen. Nachteil war allerdings, daß bei Wegfall der Annahme einer res cogitans, d.h. irgend eines geistigen Bereichs, genau diese Produktion von Begriffen zurückprojiziert werden muß auf den Körper, genauer: das Gehirn, so als würde ein Körperteil durch sich selbst zur Bildung von etwas angeregt, nämlich Bewußtsein, das zwar wesensgleich mit dem Körper ist, und dennoch unterschiedlich ("transzendent" würden Scholastiker sagen, "supervenient" oder "emergent" sagen heutige Mind-Body-Philosophen ). Genau diese Frage der selbsttätigen Aktivität in Richtung auf Transzendenz wurde von Marsilio Ficino dargestellt, als er die Unsterblichkeit der Seele beweisen wollte.
Um mein Thema überschaubar zu halten, beschränke ich mich hier auf eine Interpretation von Ficinos Epitome zu Platons Phaidon. Dabei verzichte ich aus demselben Grund auch auf einen Vergleich mit dem originalen Phaidon und mit anderen Interpretationen, etwa der durch Moses Mendelssohn. Ficinos Übersicht über den Dialog beginnt mit Rückverweis auf seine Schriften De religione Christiana und den Brief über Socrates und Christus. Zudem sagt er, er könne sich kurz fassen (saltu celeri pecurremus, S. 1390), weil die Sache ausführlich in der Theologia Platonica abgehandelt sei. Er erweckt also die Erwartung, daß auch der Phaidon von jener Parallele des Sokrates/Christus handelt. Da aber im weiteren Text der Einleitung davon nicht mehr die Rede ist, müssen wir umgekehrt schließen, daß für Ficino nicht so sehr der Tod des Sokrates als vielmehr die Unsterblichkeitsthematik das Christliche am Platonismus ausmacht. Es ist in der Tat auffällig, daß diese Epitome aus einem epistemologisch-metaphysischen und einem ethischen Teil besteht. Im folgenden werde ich mich auf das epistemologisch-metaphysische Thema beschränken mit der Absicht, entsprechend meinem angekündigten Thema, zu zeigen, daß die Unsterblichkeitsfrage eine Frage der Erkenntnistheorie ist; denn das ist der historische Ort der Spannung zwischen Leib, Seele und Erkenntnis.
Ficino legt wert darauf, daß im Phaidon das Argument für die Unsterblichkeit nicht aus der Selbstbewegung der Seele stammt. Als Grund behauptet er, daß diese Beweisart für alle Seelenarten gilt, nicht nur die menschliche, sondern auch himmlische und dämonische Seelen. Das ist aus verschiedenen Hinsichten wichtig. Die Selbstbewegung der Seele ist ein Theoriestück, das nur selten verwendet wird, jedenfalls in der Moderne. Es ist auffällig, daß in der neueren mind-body-Diskussion die Psyche selten als aktive Kraft interpretiert wird. Sie ist zumeist nur ein Aggregat von Zuständen oder Anzeiger davon. Dabei wird zwar diskutiert, ob psychische Zustände identisch sind mit dem was sie bedeuten (z.B. Schmerzen oder Freude), daß aber die Psyche selbst Urheber von Zuständen sein könnte, kommt nicht vor. Dabei müßte es kritisch unumgänglich sein zu fragen, in welchem Theorie-Rahmen Selbstbezüglichkeit oder Selbst-Einwirkung möglich ist, falls es als wahrscheinlich angesehen werden kann, daß so etwas wie Denken oder Geist entweder aus irgendwelchen physikalischen Umständen hervorgeht (was nur durch Einwirkung von Materie auf Materie darstellbar ist), oder wenn Denken von Materie unkontaminiert sich mit sich selbst beschäftigen kann. Ich vermute, daß als einer der letzten Bewußtseinstheoretiker Franz Brentano in seiner empirischen Psychologie das Bewußtsein als eine aktive Kraft aufgefaßt hat, aber auch das ist nicht unkontrovers.
Wenn nun für Platon/Sokrates/Ficino in der Selbstbewegung einerseits ein starker Beweis für die Immaterialität und Ewigkeit der Seele liegt, andererseits aber sie diese mit allen spirituellen Seienden gemeinsam hat, insofern die Seele spirituell ist, dann ist die Unsterblichkeit zunächst einmal nicht als Tatsache oder Wahrheit des Lebensvollzugs gesichert, sondern 'nur' ontologisch. Andererseits wird aber diese Selbstbewegung von Platon im Phaidros und in Nomoi X sowohl als das Wesen der Seele verstanden als auch die Selbstbewegung als Denken interpretiert. Somit ist auch die menschliche Seele genau identisch mit Selbstbewegung und mit Denken. Das heißt, man darf sich die Selbstbewegung nicht als Attribut oder gar akzidentelle Eigenschaft vorstellen, sondern muß versuchen, die Seele als Denken zu denken. Das ist es, worauf Ficino hinweist, wenn er sagt, "animam scilicet esse principium motionis unde, sequatur eam per se perpetuoque moveri, semperque vivere." (S. 1390) Denn das Prinzip der Bewegung ist nicht ein der Bewegung Äußeres, sondern selbst Bewegung und daraus folglich selbstbewegend, daraus folglich dauernd und daraus folglich ewig lebendig, i.e. unsterblich. Der Phaidon bringt dementsprechend spezifische Argumente der menschlichen Perspektive bzw. der epistemologischen Anthropologie (nobis magis propriae).
Die Einteilung des Dialogs ist nach Ficino folgende:
1) Sokrates tröstet seine Freunde.
2) Er interpretiert seine Träume, auch im Hinblick auf Unterscheidung der Geister.
3) Der Mensch steht unter dem Schutz und der Aufsicht Gottes und darf daher nicht ohne seine Zustimmung 'auswandern' (hinc emigrare).
4) Die Aussicht auf Konversation mit Göttern und anderen guten Wesen:
a) unter 'andere Götter' sind Engelsgeister zu verstehen.
b) 'gute Menschen' – offenbar wagt Platon nicht zu behaupten, daß Menschen so gut sein können wie Götter.
5) Philosophieren ist Trennung vom Körper - in gewissem Sinne. (798 b D)
a) Reinigung von Leidenschaften (a perturbationibus per moralis disciplinae purgationem – S. 1390-91).
b) Kontemplativ gesteuerte Ablenkung von den Sinnen und der Phantasie (a sensibus atque ipsa imaginatione per contemplationis ipsius intentionem – S. 1391).
6) Daraus folgt, daß der Philosoph in dem Maße wie er seinen Verstand von körperlichen Begriffen befreit, ihn mit unkörperlichen Begriffen und Ideen verbindet (incorporeis rationibus ideisque coniungere).
7) Darin liegt die Gefahr einer Täuschung, nämlich abgelenkt zu werden, so daß die Imagination in körperlicher Art denkt (fallaciam illam, qua imaginatio mentem ad incorporea se elevantem, interim ad imagines quasdam corporum saepissime distrahit, cogiturque ipsa modo quodam corporeo cogitare).
8) In einem Disjunktionsschluß folgt daraus (per disiunctionem inferit): Erkenntnis abstrakter Ideen ist nur mit dem Körper oder ohne möglich, und da nicht mit dem Körper, dann also, wenn der Körper von der Seele getrennt ist (aut nunquam, aut post mortem).
9) Ausgeschlossen ist die Frustration, weil jeder Geist die Erkenntnis anstrebt (ab omni mente perpetuo appetitur).
10) Es folgen einige moralische Konsequenzen: Tugend um des Genusses willen entfällt; Reinigung geschieht immer um der Weisheit willen; Vereinigung mit Gott resultiert nicht aus ethischem Habitus sondern aus der Reinigung.
11) Erster Beweis der Unsterblichkeit aus dem Übergang von Gegensätzen; Vorhersehung der Auferstehung der Toten (mortuorum resurrectionem vaticinari).
12) Weiter über Auferstehung als Vertrauen (ingenti quadam fiducia).
13) Erinnerung metaphysisch: Leben der Seele vor und nach dem Körper (animam et ante corpus vivere, et post corpus).
14) Erinnerung epistemologisch
a) Die Fähigkeit Fragen richtig zu beantworten, ohne daß Lernen vorausgesetzt werden muß. (Primo, quia recte interroganti, saepe vera de his quae nunquam didicimus, respondemus.)
b) Abstraktion: Sinneseindrücke führen zum Aufstieg zu Ideen, nämlich vom Gleichen zum Begriff der Gleichheit. (Deinde quoniam ex notitia eorum, quae sentiuntur, subita quadam abstractione ad notitiam ascendimus idearum, ceu cognoscendo haec aequalia in ipsius aequalitatis cognitionem.)
15) Ideenlehre:
a) Was gleich genannt wird, kann weniger gleich werden – Gleichheit selbst dagegen kann nicht ungleich werden oder auch erscheinen. (Aequalitas autem nequit unquam inaequalitas, vel fieri, vel videri.)
b) Gleiches kann an Ungleichheit teilhaben – Gleichheit selbst nicht (aequalia … inaequalitatem participiant, aequalitas vero ipsa nequaquam).
16) Ideen sind identisch mit dem Wesen des Menschen (idearum essentiam esse nostram), denn der Verstand bezieht Einzelnes auf die Ideen und muß daher mit ihnen gleich-ewig sein. (Atque cum animus noster singula refert ad ideas, ipsum ostendere se una cum idearum essentia sempiternum esse, atque eam agnoscere tanquam suam. S. 1391-139[2])
17) Zweiter Beweis für die Unsterblichkeit, nämlich aus der Proportion des Verstandes zum Erkannten (a proportione intellectus ad intelligibile). Das Erkennbare, die Idee, ist ewig. Da dieses das objectum proprium (scholastische Terminologie) des Verstandes ist, muß dieser auch ewig sein. Verständnis und Verstand (intellectus, mens) stehen zur Idee in einer Proportion, weil der Verstand sich immer dann damit befaßt, sofern er nicht gehindert wird (quotiens [non] impeditur, ad eam se confert, eiusque commercio gaudet, et perficitur – S. 139[2]) .
18) Hilfsargument aus Timaios: Auch die Sterne sind an sich nicht unvergänglich (denn das steht nur Gott zu), sind es aber de facto. Das führt zur essentiellen Annäherung der Seele an Gott. (Animae igitur tam nostrae quam divinae indissolubili Deo proquinquae sunt, … dissolvendae nunquam.)
19) Unauflöslich ist vor allem, was keine Teile hat. Der Verstand hat essentiell keine Teile, wohl aber sind seine Aktionen aufteilbar. Daraus folgt:
20) Reine Seelen werden zu Gott, unreine zu Erde.
21) Folgt, im Anschluß an Proklos, Lehre von den ätherischen Körpern.
22) Einige Gegenargumente: Die Seele ist nichts als die consonantia der Körperteile. Antwort
a) Falls die anamnesis-Theorie stimmt, dann können die Seelen nicht vor-existieren, wenn sie die Harmonie der Körper sind.
b) Da eine Harmonie nicht harmonischer sein kann als eine andere, schließt eine solche funktionale Interpretation der Seele die (seelische) Differenz der Individuen aus. (Temperans igitur anima nihilo plus consonabit, quam intemperans. – S. [1393])
23) Exkurs gegen Naturalismus (damnat illos qui rerum causis assignandis ad materias quasdam, et instrumenta confugiunt):
a) Naturgeschichte kann nicht durch Natur erklärt werden (totam historiam naturalem insufficienter per eadem naturalia confirmari).
b) Eine Erklärung aus materiellen Gegebenheiten ist nicht eine aus Wirkursachen (haec omnia omniumque motus a divinis causis efficientibus finalibus idealisque omnino dependeant).
c) Die Idee des Guten ist eine Finalursache, die zum Ersatz dafür dient, daß die effektiven Wirkursachen nicht gekannt werden können. (Sokrates wünscht: finalem cuiusque rei causam atque universi, id est, bonum cuiusque, et universi bonum cuius quidem boni potestatem causam esse dicit efficientem. Quoniam vero ipsam boni amplitudinem comprehendere nequit, secundo eligit loco ideales divinae intelligentiae rationes, ad quarum similitudines in mundi materiam expressa sunt omnia.)
d) Deshalb ist bonitas konvergent mit veritas, auf beide bezieht sich die Erkenntnis des Endlichen, bzw. Erkenntnis setzt Endliches in Beziehung zur idealen bonitas und veritas. (Neque posse veritatem rerum haberi, nisi ad ideas confugiamus.)
24) Insofern ist Wahrheit/Güte als (regulative) Idee dem Verstand eingeboren zum Zweck der Erkenntnis von Einzelnem (formulas idearum inesse mentibus nostris ad quarum congruitatem, vel contra singula vera esse, vel contra censentur).
25) Abschließendes Argument für die Unsterblichkeit: Die rationale Seele ist die forma corporis, insofern sie nicht bloß Erkenntnis leistet, sondern auch Leben gibt, denn der Verstand ist gewissermaßen die Idee des körperlichen Lebens (quasi quaedam vitae corporalis idea).
Die erste epistemologische Aussage von Belang ist Nr. 5: Philosophieren, und das heißt wohl Denken überhaupt, besteht in der doppelten Tätigkeit der Reinigung von Leidenschaften und der Weglenkung des Denkens von den Sinnen und der – scholastisch zu interpretierenden – Phantasie als dem Gefäß von sinnlich aufgenommenen Bildern. In dem existentiellen Kontext des Todes fungiert die Reinigung zunächst als ethisches Abbild einer metaphysischen Situation, nämlich der Ablösung vom irdischen Leben. Wenn man nun in ontologischer oder auch in epistemischer Absicht die Situation nicht existentiell sondern erkenntnistheoretisch betrachtet, dann sind Reinigung von Leidenschaften und Kontemplation durch Absehung von Sinnlichkeit dasselbe, so wie Sinne zwischen Empfindung und Einsicht stehen. Die grundsätzlich epistemologische Aussage von Ficinos Exposition des Dialogs ist also, daß Begriffe an sich immateriell sind, denn nur dann lohnt es sich metaphorisch von Reinigung zu sprechen. Begriffe an sich können nicht mehr oder weniger materiell sein, wohl aber gibt es ein mehr oder weniger im Verstehen (s. Nr. 6).
Eine wichtige Leistung jeder Epistemologie ist es zu erklären, wie Irrtümer zustande kommen. (Nr. 7) Typisch für die gegenwärtige mind-body-Diskussion ist, daß heftige Empfindungen und überragende Leistungen des Verstandes als Argumente angeführt werden, es wird aber nicht erklärt, wie falsche Meinungen überhaupt ontologisch-epistemologisch möglich sind. Beispielsweise gilt es für unmöglich zu behaupten: "Du hast keine Schmerzen", es wird auch erklärt, wie Phantomschmerzen etwa entstehen, worin aber das Mißverständnis als solches besteht, das wird nicht erklärt. Was denkt ein Mensch, der Höhenangst hat? Was ist es, was er denkt, und denkt er wirklich? Und wie unterscheidet sich solches Denken von dem Denken einer Primzahl oder von dem Denken an die Telefonrechnung? Der Turing-Test setzt wenigstens die Rahmenbedingungen, unter denen ein denkender Mensch von einem nichtdenkenden Apparat, der wiederum von einem Denker entworfen wurde, getäuscht werden kann. Aber was findet statt, wenn ein Mensch einer Maschine Denken zutraut? Die Antwort ist, was anderswo Schwärmerei, okkulte Qualitäten, Hypostasierung , Verdinglichung, misplaced concreteness oder auch Kategorienverwechslung heißt: man unterschätzt zunächst die Immaterialität des Gedankens und unterstellt deshalb den Gedanken körperliche Eigenschaften. Wenn man – in den genannten Beispielen – jemandem den Schmerz bestreitet, denkt man den Schmerz als ein Ding, welches da oder nicht da ist. Wenn jemand Phantomschmerzen hat, dann glaubt er, dem Schmerz müsse eine physische Gegebenheit entsprechen. Diese zwei Irrtümer sind zwar entgegengesetzt in der Sache, in der Form aber beides Verdinglichungen von Empfindungen. Phobien wie Höhenangst lassen sich bekanntlich nicht wegreden, das liegt daran, daß Gefühle zwar einen körperlichen Anlaß signalisieren, selbst aber an sich unkörperlich sind.
Ficinos vordergründig moralische Bemerkung, daß die Imagination den Verstand vom Denken des Unkörperlichen ablenken kann berührt also den Kern der Epistemologie der Erfahrung. Im scholastischen Kontext wurde das Problem unter dem Titel diskutiert, ob der Intellekt sich selbst als einen Gegenstand denkt und ob die Gedanken-Formen identisch sind mit den Formen von Gegenständen. So behauptet etwa der Jesuit Hieronymus Dandinus: "Der Verstand begreift nicht sich selbst als sich selbst, sondern in der Weise des Gekanntseins. Erkenntnis ist in diesem Falle seine Erkenntnisform. Deshalb [gilt die Analogie, daß] so wie der primäre vom sekundären Akt und die reale und natürliche Form von der gekannten Form verschieden ist, so ist auch die Natur des Intellekts von allen Erkenntnissen und aufgenommenen Erkenntnisformen verschieden."
Gefühle, Phobien, Irrtümer usw. sind – in einer anderen Terminologie – entia rationis von der Art, daß es ontologisch irrelevant ist, ob ihnen ein extramentales Objekt entspricht. Primzahlen, Universalien, oder auch Platonische Ideen sind Gedankendinge derselben Art. Und aus der angeführten Irrtumsfähigkeit von Imagination und Denken folgt: Die Ontologie von Gedanken ist epistemisch. Um so mehr ist es für wahre Gedanken irrelevant, daß es eine physikalische Welt gibt. Davon ganz unabhängig ist die formale Logik von Aussagen.
Nun muß es in der Natur abstrakter Gedanken, welche nicht in körperlichen Kategorien gedacht werden, liegen, daß auch ihr Träger unkörperlich ist, oder zumindest verlangt die formale Beschreibung von Gedanken, daß sie nicht von einem Träger abhängig sein können, sofern dieser materiell ist. Andernfalls müßte geklärt werden, wie dieser Übergang zustande kommt, wenn denn, wie gerade erst gezeigt, Gedanken qua gedacht immateriell sind. Das ist übrigens noch nicht der erste Beweis für die Unsterblichkeit, wohl aber für die Immaterialität des Erkennens, was impliziert, daß Immaterialität notwendige Bedingung aber nicht hinreichend für Unsterblichkeit ist. (Nr. 8)
Aus der Tatsache, daß es Irrtümer gibt, wird – nachdem die Ursache von Mißverstehen aufgedeckt ist – gefolgert, daß Verstehen als solches nicht frustriert werden kann. (Nr. 9) Die übliche Formulierung dieses Arguments ruft Gottes Güte und Gnade zum Zeugen und hat daher – spätestens seit Suárez – zur Zwischenschaltung eines voluntaristischen Gottes genötigt, bzw. zu der einschränkenden Formulierung 'natural immortality' sei möglich oder auch nicht (so z.B. Berkeley). Das ist aber nicht, was Ficino sagt. Vielmehr sagt er, daß es die Natur des Geistes ist zu erkennen, solange er nicht gehindert wird: "Daß der Geist [die Wahrheit] niemals erreicht, kann nicht angenommen werden, weil sie von jedem Geist beständig angestrebt wird." Man beachte: es ist nicht kontingenter Weise so, daß allerlei Geister dauernd nach Wahrheit herumsuchen, sondern es liegt in der Definition und im Wesen von Intellekt Wahrheit anzustreben, und das schließt Vergeblichkeit aus: die Frustration wäre nicht eine faktische, sondern eine konzeptuelle – ein Widerspruch in der Sache. Frustration im einzelnen ist möglich aber nicht im Wesen. Am theoretischen Ausschluß von Frustration sieht man, daß wir es mit einer formalen Beschreibung von Geist zu tun haben, wie es sich für die Philosophie geziemt: Geist ist Streben zu immateriellen Begriffen. Auch in diesem Sinne koinzidieren Epistemologie und Ontologie, weil nämlich der Gegenstand der Ontologie ein Verstehen ist.
Der erste Beweis für die Unsterblichkeit der Seele (Nr. 11) lautet also epistemologisch gedreht: Auferstehung und die Erhaltung von Gegensätzen in ihrer Ablösung ist die kosmologische Variante der Abstraktionslehre, wobei Abstraktion soviel ist wie die Umkehrung der Konkretion von endlichem und unendlichem, ohne daß das Endliche zu Nichts erklärt wird. Das wird später noch erläutert. Danach ist Ficinos Interpretation der Anamnesis-Lehre (Nr. 14) unspektakulär, obwohl er sie ausdrücklich als 'bloß pythagoräisch' bezeichnet und damit hervorhebt, dass das folgende seine eigene Auslegung ist, welche ich für strikt epistemologisch halte: Die sokratische Methode zeigt zwar vielleicht nicht, daß die Seelen wirklich vor den Körpern existiert haben, wohl aber daß das Verstehen über Operationen verfügt, die vom Lernen unabhängig sind. Natorp hatte bei seinem Versuch einer kantianischen Platon-Interpretation der Präexistenz der Seele nichts abgewinnen können, denn er mißverstand Erkenntnistheorie als eine Form von Subjektivität. Ficinos Interpretation zeigt aber, daß die pythagoreische Präexistenz auch so gelesen werden kann, daß Erkenntnis einen ontologischen Status hat, der möglicherweise unabhängig von den Sinnen und von der – substantiell zu denkenden – Existenz eines zweiten Seinsbereichs der Ideen ist. Damit schleicht Ficino sich aus einem Problem, das aufkommen muß, wenn Sensualismus und Unsterblichkeit zugleich vertreten werden (etwa bei Thomas von Aquin), nämlich ob die Seele etwas lernt, was ihr auch im Jenseits zu denken gibt. Das brauchen wir hier nicht zu verfolgen. Die Seelenwanderung bereitete noch Franz Brentano Kopfzerbrechen, während die Philologen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Eduard Zeller und Erwin Rohde sich nicht um einen Origenismus-Verdacht scherten und daher aus literarhistorischen Gründen Platons Bezug auf Pythagoras wörtlich nehmen konnten. Für Ficino ist das Verbot der Seelenwanderung und damit der Präexistenz der Seelen glücklicher Anlaß dafür zu betonen, daß wir die Seelen nicht nach Art von Objekten behandeln dürfen: Denken ist die Natur der Seele, gleichgültig, wann und wie sie entstanden ist. Ideen sind selbstverständlich Gedanken – für Thomas und andere: Gedanken Gottes – und das ist ihr essentielles Sein. Epistemologisch ist das klar, ontologisch ist dem nichts – wirklich nichts – hinzuzufügen.
Mit unausgerichteten Grüßen von Nicolaus Cusanus erläutert Ficino das nicht mit den vielgefürchteten Ideen von Tischen und Betten, nicht einmal mit der Idee des Guten, sondern mit der Idee der Gleichheit, welche aus dem Akt des Vergleichens gewonnen wird. Ideen und Konzepte sind in dieser Perspektive die Koinzidenz von ewiger Wirklichkeit und zeitlicher Instantiierung. Da die Erinnerung nicht als Reminiszenz von zeitlich vorangehendem gedacht zu werden braucht, ist sie so etwas wie das Innewerden der Prinzipien von Erkenntnis. "Dann steigen wir aus der Kenntis des sinnlich wahrgenommenen, indem wir eine Art Abstraktion durchmachen, zur Kenntnis der Ideen auf …" Abstraktion ist eine Distraktion, eine Erfahrung der Weglenkung vom Anlaß der Erkenntnis. Zugleich wird die scholastisch-sensualistische Abstraktion umgedeutet von der Kollektion der Eindrücke in Vorstellung und Gedächtnis (vgl. oben Nr. 5) zur Aufsuche von Begriffen/Ideen. "… der Ideen, d.h. zur Kenntnis von Gelichheit an sich angesichts partikulärer gleicher Objekte." Deutlicher kann man im 15. Jahrhundert nicht sagen, daß die Ideenlehre eine Kritik der irdischen Vernunft ist.
Das wird gleich noch weiter bestätigt (Nr. 15): Der Maßstab ist gerade deshalb das Maß, weil er selbst kein Mehr-oder-weniger kennt. Teilhabe versteht Ficino hier übrigens nicht nur als steuernde Oberleitung, sondern auch als Beimischung oder vielleicht Verdünnung. Endliche Dinge haben etwas, was reine Gedanken nicht haben, nämlich Unreinheit.
Im Sinne eines Unsterblichkeitsbeweises folgt erst danach (Nr. 16) eine Ungereimtheit, nämlich der Schluß vom Gegenstand des Denkens auf das Denken im Sinne einer essentiellen Identität. Da es eine Differenz zwischen dem erkennenden Organ und dem, auf das hin es das Gedachte zurückführt, muß diese Differenz sofort wieder verneint werden, um sagen zu können, Verstand und Idee seien gleich-ewig. Andererseits kann das aber auch implizieren, daß die Differenz nicht zwischen dem Verstand und den Ideen liegt, sondern nur zwischen dem Endlichen, welches auf ewiges reduziert wird, und dem Ewigen. Also wenn es eine Reihe gibt Ding-Verstand-Idee, dann liegt der Schnitt nicht Ding-Verstand/Idee, sondern Ding/Verstand-Idee.
Dieses Problem geht Ficino im Sinne einer Proportionalanalogie an (Nr. 17). Dadurch wird der willkürliche Schnitt vermieden. Verstehen ist demnach die natürliche Selbstbewegung des Verstandes. Wir haben es also mit einer Kongruenz zu tun, die sich der Identität (wie oben angedeutet) annähert. Auch der Verstand ist offenbar der Beimischung fähig, aber diese Beimischung tangiert nicht sein Wesen: Denken als die Bewegung zwischen dem Sinnlichen und der Idee ist nur in sofern ein Körperproblem, als dieses immer dann überwunden wird, wenn es stattfindet.
Die Identifikation von Denken und Gedachtem ist noch nicht notwendig ein monistischer Idealismus, auf den Ficino offensichtlich hinauswill. Es ist sehr wohl denkbar, Wissen und Gegenstand des Wissens zu identifizieren und doch im Rahmen einer reinen Epistemologie zu bleiben, welche dem Denken keinen ontologischen Status zubilligt, wie das im Kantischen Kritizismus durchgeführt wurde. So sagt etwa Paul Natorp: "Etwas, ein Gegenstand, erscheint mir, und: Ich habe davon ein Bewußtsein, dies ist in der Sache eins und nicht zweierlei. Weder darf ich sagen: der Gegenstand erscheint mir so, z.B. als Einheit, weil ich mich so vorstellend zu ihm verhalte, z.B. vereinigend; noch auch: ich verhalte mich so zum Gegenstande, weil er mir so erscheint; keines ist vom andern abhängig, weil beides vielmehr wirklich Eines ist." Aber an diesem Zitat wird auch deutlich, daß wir es bei Ficino ebenso wie bei Natorp mit Formen von Reduktionismus zu tun haben, nur daß Reduktionismus nicht notwendigerweise Vereinfachung und Physikalisierung bedeuten muß, sondern auch als Idealisierung funktioniert (vgl. Nr. 20).
Ein Standardargument für oder gegen die Existenz und Unsterblichkeit der Seele betrachtet die Seele als eine cartesische spirituelle Substanz. Die Frage kann so formuliert werden: Ist Denken wirklich aus einem Guß oder vielmehr ebenso teilbar wie ausgedehnte Materie? In einer materialistischen Hirnlehre ist die Antwort klar. Aber wie wir gesehen haben, ist das Denken ja Bewegung und insofern auch aus Teilen bestehend, selbst wenn man die Unreinheit körperlich behinderten Denkens als unwesentlich ausklammert (Nr. 19): "Obwohl sie nach ihren konstitutiven Teilen nicht ausgedehnt ist, breitet die Seele sich durch die Teile ihrer Tätigkeit aus." Ausdehnung und Diffusion sind hier die Gegensätze, oder Raum und Zeit, denn: "In der Zeit und beweglich agiert sie." Die Teilbarkeit der Seele ist zwar zuzugeben, aber nicht als materiell-räumliche sondern als temporale Bewegung oder Diskursivität. Das kann wiederum mit der Seelenwanderungslehre metaphorisch dargestellt werden (Nr. 20), wonach die reinen Seelen zum Reinen und Zeitlosen, die erdverhafteten Seelen erdhaft aussehen. Oder anders gewendet: Die epistemologische Zwitterhaftigkeit des Verstandes löst sich nach dem Tod in Dualismus auf. Materialismus ist demnach pythagoreisch gesagt Strafe für falsches Denken.
Aus den Gegenargumenten (Nr. 22) gegen eine Unsterblichkeit der Seele lernen wir, daß uns nicht gedient ist, die Seele aristotelischer Definition als Harmonie-Begriff auszulegen. Um die ontologische Frage kommen wir nicht herum. Man könnte consonantia mit Funktion übersetzen, dann läuft die Annahme der Existenz eines vom Körper unbeschadeten Erkenntnisorgans auf die Hypostasierung von Funktion hinaus. Die Seele auf Funktion zu reduzieren löst also nicht das Problem, daß Denken offenbar ohne Körperlichkeit stattfindet – zumindest in manchen Manifestationen – bildlich ausgedrückt: in einer Vor-Existenz. Seele als Harmonie und Funktion zu interpretieren geht also nur, wenn man einen Substanzbegriff denkt, der nicht in Analogie zur materiellen Substanz gewonnen worden ist.
Ein theologisch-anthropologisches Argument besteht in dem Unterschied zwischen Funktion qua Funktion und diesem Denken qua individuell. Im Hintergrund lauert der Averroismus, gegen den Thomas geantwortet hatte: Dieser Mensch denkt. Aber auch epistemologisch ist das Argument wirksam, denn aus dem Verstand als Funktion des Körpers ist nicht erklärbar, daß geringere oder größere Erkenntnis (Annäherung an Wahrheit) möglich ist. Auch hier ist Irrtumsfähigkeit ein Prüfstein der Theorie. Verstand als Funktion des Gehirns macht Individuation ausschließlich an der – wie auch immer naturalistisch interpretierten – Materie fest.
Da nichts unter der Sonne neu ist, hat Ficino auch Argumente gegen den Physikalismus zu bieten (Nr. 23). Rein formal ist Physikalismus (Naturalismus, Materialismus) eine Theorie, die ihre Objekte aus ihren Objekten erklärt (totam historiam naturalem … per eadem naturalia confirmari – S. [1393]), so daß die Theorie nicht ihren Gegenstand transzendiert, also im Grunde auf Erklärungsleistung verzichtet. Aber eine physikalische Interpretation rekurriert letztlich auf Wirkungskausalität. Im materiellen Bereich funktioniert das nur in einem vorläufigen Sinne oder im Sinne einer Konzeptualisierung von Beobachtung. Das ist für einen Metaphysiker nicht genug. Denken als Leistung oder Funktion des Körpers darzustellen heißt, auf eine Erklärung zu verzichten zugunsten von Beschreibung. Falls Erkenntnis auf die wirkliche Ursache aus ist, muß sie die Wirkursachen aufsuchen, die vor-materiell oder außer-materiell sind. Das ist Ficinos platonisch-metaphysisches Argument in methodischer Absicht. Methodisch gesehen ist daher die Idee des Guten die Zweckursache, die als Wirkursache effektiv ist. Und insofern konvergiert sie mit Wahrheit, und um Wahrheit ist es dem Denken zu tun.
Gemäß der implizit dargestellten regulativen Idee ist die Denkbarkeit von Erkennbarkeit, Güte und Wahrheit die metaphysische Bedingung der Möglichkeit von Leben, welches wiederum nicht nur ein anderes Wort für Organismus ist, sondern individuelles und idealiter notwendiges Leben.
Um also zur Titelfrage zurückzukommen: Ficino übersetzt Platons Seelenlehre in eine solche Epistemologie, in der nicht nach der Richtigkeit von Sätzen oder nach der Geltung von Aussagen gefragt wird, sondern Erkenntnis als Leistung dargestellt wird, ohne die es nicht lohnend wäre, Metaphysik zu treiben. Während seine Theologia Platonica im ganzen, zumindest aber in den ersten Büchern als ein neuplatonisch-kosmologischer Traktat erscheint, noch dazu als ein dogmatischer, legt gerade seine Auslegung des Phaidon eine epistemologische Interpretation nahe, so sehr, daß die einleitenden Frömmigkeitsbezeugungen als Ablenkung erscheinen könnten, würden sie nicht im letzten Teil der Zusammenfassung, wenn es um Lebensführung geht, wieder aufgenommen. Innerhalb der Renaissancephilosophie hat Ficino die Unsterblichkeitsdoktrin zum Kampfthema gemacht. Er hat aber – anders als kirchliche Dogmatiker – nicht metaphysische, sondern epistemologische Argumente vorgetragen in der Einsicht, daß die Seele nur dann wert ist diskutiert zu werden, wenn sie essentieller Träger von Erkenntnis ist. Die gegenteilige Auffassung ist die von Pietro Pomponazzi bis heute übliche, nämlich Erkenntnis am Gegenstand des Erkannten so festzumachen, daß das erkannte Objekt der empirische Gegenstand ist. Dabei lag es dann nahe, auch die Substanz des Denkens mit dem materiellen Träger zu verschweißen, so daß Epistemologie bzw. empirische Psychologie und Hirnphysiologie verschmelzen. Natürlich hat es auch gegenteilige Ansätze gegeben, nämlich in der Phänomenologie und im Pragmatismus, die wiederum die materiellen Rahmenbedingungen des Denkens ausklammern und daher, auf dem Umweg über die Seele als reine Funktion, zu der Auffassung gelangen, daß Denken und Gedachtes so sehr identisch sind, daß es erlaubt ist, dem Denken einen ontologischen Status zuzubilligen, ohne in okkulte Qualitäten zu verfallen. Das heißt, gerade die neuplatonisch-epistemologische Interpretation der Seele überwindet das mind-body-Problem der Erkenntnis.
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