Monday, November 7, 2011

Coluccio Salutati und die Menschenwürde


Coluccio Salutati und die Menschenwürde
 Paul Richard Blum

I.

Coluccio Salutati (1331-1406) gilt als der erste Philosoph unter den italienischen Humanisten, sofern man unter Renaissance Humanismus die anthropozentrische Wende des Christlichen Denkens versteht, welche Reformation, Aufklärung, Säkularisierung und moderne Anthropologie möglich machte. Diese Wende wurde von Francesco Petrarca (1304-1374) postuliert, indem er in seinen Dichtungen und theoretischen Schriften die Selbstbetrachtung in der Tradition des Augustinus von der Richtung auf Gotteserkenntnis umwendete in die Betrachtung der konkreten menschlichen Natur hinsichtlich ihrer Begrenztheit und ihrem Drang zur Selbstbehauptung (Secretum). Diese Wende zum Menschen als Zentrum der Spekulation war eine unbeabsichtigte Folge des spätmittelalterlichen Voluntarismus, von dem offensichtlich auch Salutati beeinflußt war. Salutati war beruflich ein in Bologna ausgebildeter Jurist, der von 1375 bis zu seinem Tod Kanzler (d.h. führender Politiker) der Stadt Florenz war. Seine Werke lassen darüber hinaus eine breite Bildung in der antiken klassischen Literatur und Philosophie erkennen.
Der Begriff der Menschenwürde (dignitas hominis) kommt bei Salutati nicht wörtlich vor. Der Begriff hat aber Komponenten, zu denen Salutati beigetragen hat: Menschenwürde ist ein metaphysischer Begriff, indem er nicht von einzelnen Individuen oder kontingenten Situationen abhängt, sondern von Natur aus im Begriff des Menschen enthalten ist. Andererseits muß diese Würde aber von jedem Einzelnen und gegenüber jedem konkreten Menschen wahrgenommen werden; und insofern ist Würde nicht selbstverständlich. Daraus ergibt sich eine dialektische Spannung zwischen zeitlicher oder säkularer und metaphysischer oder theologischer Würde, eine Spannung, die in der Analyse menschlichen Handelns ausgelotet werden muß. Nun ist aber konkretes menschliches Handeln von genuin menschlichen Potentialen abhängig, die man modern kognitiv und emotional-psychologisch nennt, in der antiken und mittelalterlichen Philosophie als Vernunft, Wille und Passionen unterschied. Die Rahmenbedingungen menschlichen Handelns dagegen sind die Aktivitäten der Mitmenschen sowie die vom Menschen unbeeinflußbaren Gegebenheiten objektiver Art, die, soweit unkalkulierbar, als Zufall erscheinen. Daraus ergibt sich, daß Menschenwürde sich als metaphysische Eigenschaft des Menschen erweisen muß, die sich nicht theologisch-objektiv sondern nur durch Blick auf das Funktionieren und die Orientierung menschlichen Handelns erschließen läßt. Für Salutati bedeutet das, daß wir nach der Rolle von Wille und Vernunft, nach den Maßstäben des Handelns und seinen objektiven Bedingungen in Schicksal oder Vorsehung, nach dem politischen Recht und nach Rangordnungen von Aktivitäten suchen müssen.

II.

Treu der christlichen und der paganen Tradition (Bibel, Augustinus, Ovid) definiert Salutati die Würde des Menschen durch die Mittelstellung im hierarchischen Kosmos: Die Schöpfung wird dadurch vollendet, dass zwischen die Geistwesen und die beseelten körperlichen Wesen ein "verstandbegabtes" Wesen tritt, das als Abbild Gottes, "teils aktiv, teils materiell-passiv" (partim agentes et partim materiales), sowohl rational als auch der Natur konform wirksam ist und dadurch alles mit der Ersten Ursache zurückverbindet (quelibet ... religetur). [De fato, I, 1, p. 11.] In theologieneutrale Sprache übersetzt besteht die essentielle Menschenwürde darin, dass menschliches Tun und Herstellen ausgehend von der an die materiellen Bedingungen gebundenen Rationalität sowohl Wirkungen verursachen kann als auch die Welt der Veränderung an die Welt der Notwendigkeit bindet. Menschliche Vernunft verbindet Notwendigkeit und Kontingenz der sichtbaren Realität, weil die Vernunft die Welt sich unterwerfen oder auch sie als gegeben hinnehmen kann. Die Welt des nicht-kontingen Notwendigen ist in der klassischen Sprache jene Hierarchie, die von Gott über die Engel und die Planeten in die belebte und unbelebte Natur reicht, und in die der Mensch miteingebunden ist als eine Ursache, die ihr Potential von der Ersten Ursache bezieht [De fato I,2.]. Der Sinn des Bildes ist nicht die Bestätigung der traditionellen Hierarchie, sondern die autonome Rolle des Menschen in ihr. Deshalb diskutiert Salutati ausführlich die Funktion des Willens und die Freiheit. Am Beispiel des Sokrates, der nicht der Notwendigkeit sondern seinem Willen gehorchte, als er das Todesurteil annahm, illustriert er seine Kernthese [De fato II, 9, p. 77], dass "wir aus der Notwendigkeit unseren Willen beziehen" (de necessitate facimus voluntatem), was der Formel des Apostels Paulus entspricht: "Gott bewirkt in uns sowohl das Wollen als auch das Vollbringen" (Philipper 2, 13). In der Kombination mit dem Freiheitsanspruch des Sokrates erläutert der Bezug auf Gottes Einwirken die Theorie, dass – wie Salutati erläutert [De fato II, 8] – der menschliche Wille nicht nur seine Autonomie sondern auch seine Notwendigkeit schaffende Kraft aus der Gottesebenbildlichkeit bezieht. Der Wille ist nicht abhänig von der Notwendigkeit (vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, 82, 2, c), sondern er schafft Notwenigkeit. "Gott bewegt unsere Willensakte so, dass er sie keinesfalls erzwingt." [De fato II, 9, p. 85.] Die Würde des Menschen besteht somit darin, ohne Konditionierung Wirkungen zu erzeugen und einen vorschreibenden Willen auszuüben, d.h. wie ein Gott zu handeln. In gängiger Sprache der Gegenwart dürfen wir sagen, dass Menschenwürde in unhintergehbarer Autonomie und in reflektiertem Verhalten zu den Bedingungen des Handelns besteht. Der von neuzeitlichen Religionsphilosophen gefürchtete Determinismus (in theologischer Sprache: Prädestination) wird so aufgelöst, dass "die Prädestination ein Akt des göttlichen Verstandes ist, der einen zukünftigen Zustand vorbereitet", wobei der Mensch zur Ausführung berufen ist (Paulus, Römerbrief 8, 30), und zwar der Mensch in seiner konkreten Existenz. Wegen der metaphysischen Differenz zwischen ewiger Vorherbestimmung und zeitlicher Ausführung durch ein Individuum ist Prädestination kein fatales Schicksal sondern Erhebung des Menschen in den Rang eines temporalen Gottes. [De fato II, 10, pp. 89 f.]
Dem widerspricht auch nicht Saltuatis Schrift über das mönchische Leben (De seculo et religione), in der die Versuchungen der Welt und die Früchte der Frömmigeit beschworen werden, und die deshalb Verlegenheit unter den Interpreten ausgelöst hat [De seculo, p. V f.]. Der Autor reflektiert das Paradox, als Politiker zum kontemplativen Leben zu ermahnen [De seculo I, prohemium, p. 2], und prangert die – wie wir heute sagen würden – naturalistische Auffassung der Welt an, welche ein unvollständiges Bild der Potentiale des Menschen leistet. Es sind die "körperlichen Philosophen" (carnales philosophos), die sich auf säkulare Quellen berufen, um die Welt zu einem vernuftbegabten und ewigen Lebewesen oder gar zu einem Gott zu erklären [De seculo I, 1, p. 4] und dadurch faktisch der natürlichen Hierarchie berauben. Demnach ist diese Schrift eines Laien hauptsächlich der Bekämpfung des Hochmuts gewidmet. Gegen die Naturalisten also positioniert Salutati den Menschen als gegenüber den materiellen Bedingungen unabhängig, weil mit freiem Willen ausgestattet [De seculo I, 36, p. 86], und zur Transzendenz offen.
Ein Grenzfall der menschlichen Autonomie und Abhängigkeit ist die Tyrannei. Da die menschliche Tugend sowohl theologisch (auf dem Weg zur Glückseligkeit) als auch politisch und individuell, nämlich als bürgerliche Tüchtigkeit und als Moralität definiert wird [De tyranno, Praefatio § 1, p. 4 Ausgabe Ercole], ist Tyrann derjenige, der seine eigenen Interessen über die Gemeinschaft und das Recht stellt, sich also eine dem Menschen unnatürliche Position anmaßt [De tyranno Cap. 1, §§ 7-8, S. 9]. Da die dem Menschen natürliche Position im Kosmos oder im Schöpfungsplan nur dadurch wirklich wird, dass sie immer wieder im konkreten Leben erkannt, realisiert und wirksam gemacht wird, kann sie auch, wie im Falle des Tyrannen, verspielt bzw. muss sie wiedergewonnen werden. Die Tatsache, dass man sich wie der Mönch aus dem täglichen Geschäft, oder wie der Tyrann und der materialistische Philosoph von der natürlichen Ordnung verabschieden kann, widerlegt nicht diese metaphysisch-theologische Ordnung, sie zeigt nur die erzieherische Herausforderung, sie zum Tragen zu bringen.
Um dies zu zeigen, hat Salutati eine Schrift zum Vergleich der Disziplinen Jurisprudenz und Medizin verfasst. Vordergründig geht es um den Vorrang der Universitätsfakultäten, denn die Medizin stand traditionell in höherem Ansehen. (Man darf das Thema auch nicht mit Immanuel Kants "Streit der Fakultäten" verwechseln, die auf die seit der Reformation unaufgelöste Spannung zwischen Theologie und Philosophie eingeht.) Von Anfang an aber ist die Absicht anthropologischer Art, denn "es gebieten die Gesetze ihrerseits den Menschen und lenken ihre Handlungen, damit sie ihre Grenzen nicht überschreiten, ja es nichteinmal versuchen." [De nobilitate legum et medicinae, Proemium, p. 6.] Aus dieser Perspektive ist die Bestimmung der Rangordnung zweier Disziplinen in Wirklichkeit eine Bestimmung des Rangs der Humanität oder der Würde. Dementsprechend beginnt der Traktat mit einer Definition von nobilitas, was man als Dignität, Würde oder Adel übersetzen kann. An den Zwölf Stämmen Israel macht Salutati deutlich, dass solcher 'Adel' gerade nicht aus der Geburt abgeleitet ist, sondern aus virtus, und im Gleichrang der Stämme ist ausgedrückt, dass jedes Volk und jeder Mensch berufen ist. [De nobilitate 1, p. 8-10.] Virtus wird hier mit "gnarus", d.h. "scientia [et] virtutibus excellens" paraphrasiert, also allseitig erfahren [p. 10]. Damit ist schon im Ansaz vorgegeben, dass die Dignität der wissenschaftlichen Disziplinen aus dem Dienst an der individuellen und gesellschaftlichen Erfahrung bemessen wird. Obwohl es also möglich und im individuellen Fall sogar empfehlenswert ist, der Welt zu entsagen, bemißt sich doch der humane Wert einer Tätigkeit nach dem Beitrag, den sie zu eben dieser Bestimmung des Menschen und der Gemeinschaft leistet, selbstverständlich im Einklang mit der göttlichen Ordnung und der Natur. Die Würde des Menschen ist seine Tätigkeit.
Mit Tugend befassen sich natürlicherweise auch Salutatis zahlreiche privaten Briefe und seine Interpretation der antiken Mythologie (De laboribus Herculis). So unterstellt er z.B. in einem frühen Brief, dass die Auseinandersetzung mit antiker Religion und Mythologie gleichbedeutend mit der Suche nach Modellen des tugendhaften Handelns ist. Diese methodische Annahme macht es möglich, pagane Literatur in christlicher Erziehung zu verwenden. [Novati 1, S. 9-12] Denn sie impliziert, daß nicht statische Welten der Götter, der Menschen oder der Helden repräsentiert werden, sondern Paradigmen des Handelns, das dem Menschen möglich und zu- oder abträglich ist. Menschliche Dichtung, so sagt er in seinem Buch über Herkules, ist Schöpfung von Geschöpfen um deren Handeln willen. So wie man in Gott inneres und äußeres Handeln bedenken kann (nämlich den Akt der Schöpfung und die Kreatur), so offenbar auch in den Kreationen der heidnischen Dichter. [De laboribus Herculis 2, 2, S. 82.] Aus demselben Grund ist die Herkules-Mythologie nicht nur ein Beispiel der Kompatibilität paganer und christlicher Theologie, sondern auch die Figur des Halbgotts ein Paradigma des Humanen. An ihm läßt sich die Spannweite menschlicher Tugend explizieren: Es ist dem Menschen eigen, sowohl moralisch ins Bestialische wie auch ins Göttliche auszugreifen. Die antiken Dichter haben an Herkules ausgearbeitet, was die Schwächen und die Stärken des Menschen sind. [De laboribus Herculis 3, 5, S. 176-177.] Demgemäß verweilt Salutati auch beim Abstieg des Helden in die Hölle/Unterwelt, um zu zeigen, daß die menschliche Natur an das Körperliche gebunden ist, zudem aber noch die Sinnlichkeit über die Rationalität herrschen kann. [De laboribus Herculis 4, tract. 2, 1, S. 527 f.] Obwohl Salutati hier traditionelle Denkformen übernimmt, ausdrücklich z.B. den durch Macrobius vermittelten Platonismus, richtet sich die Interpretation auf die Besonderheit des Menschen, für die Extreme frei zu sein. Weiterhin neuplatonische Darstellungsformen übernehmend argumentiert Salutati abschließend, dass die höchste Stufe menschlicher Tugend, die des Heros, nicht mehr vom Willen abhängt sondern vom Hingerissensein: In der vollkommenen Tugendhaltung liegt die wahre Entscheidungsfreiheit, indem der Wille die Alternative wählt, welche die wahre Vernunft will, und das heißt eigentlich, daß der Wille nicht wählt, sondern ohne diskursives Abwägen dorthin gezogen wird. [De laboribus Herculis 4, tract. 2, 7, S. 558.] Die Denkfigur ist dieselbe wie zuvor: Das Potential des Menschen schwankt zwischen dem transzendenten Maßstab des absolut Vollkommenen und dem nahezu vollständigen Verlust des Humanen, und das heißt, Menschsein ist in dieser Spannweite aktiv.
In seinen zahlreichen Briefen findet Salutati Gelegenheit, Teile dieser Sicht des Menschen auszuarbeiten, denn das Briefkorpus ist an sich schon intendiert, theoretisches und praktisches Leben zu verbinden und Normen menschlich verbindlich zu machen. In einem Brief, in dem er als Jurist einen Musterfall erläutert, der Tyrannei und Vater-Sohn-Beziehungen betrifft,  ermahnt er zuerst, Adel (nobilitas) durch Studium der artes liberales zu erfüllen, um von dort die Stellung des Menschen in der Seinshierarchie auszubreiten: Der Mensch, so heißt es im Anschluß an die theologische Tradition (z.B. Thomas von Aquin, De veritate 8.15 c, und S. Th. I-II q. 2 a. 8 arg. 1; Dionysios Areopagita, De divinis nominibus 7), ist wesentlich verschieden von den Tieren dank des Intellekts, der es dem Menschen erlaubt, an die Grenzen des Engels-Intellekts zu rühren. Insofern im Rahmen dieses Denkens Engel der Inbegriff vollkommenen Verstehens sind, folgt für Salutati daraus der Imperativ, sich über das Menschliche zu erheben, nicht aus Hochmut, sondern durch Tugenden, Fleiß, Ansporn und Wissen (virtutibus, industria, studio et doctrina). [Novati 2, nr. 19, S. 202-204.] Nobilitas ist für Salutati durchwegs kein Rang sondern der Appell an das aktive Verwirklichen menschlicher Tugend und Selbstübersteigung. [Novati 1, nr. 2, S. 56-58, und öfter.]  Auch im Alter verteidigte Salutati das Studium der Freien Künste, einschließlich der Lektüre heidnischer Quellen, um das Streben des Menschen zu fördern. Die zuvor geführte Diskussion um den Rang der Disziplinen ist deshalb auch eine um den Vorrang des Willens über dem Intellekt, allerdings so, daß der Wille nicht ziellos ist, sondern den Menschen übersteigt, indem er das als wahr erkannte zum Objekt des Strebens macht. [Novati 4,1, nr. 24, S. 213 f.]

III.

Mit Salutati faßt der – später so bezeichnete – Humanismus in Florenz und ganz Italien Fuß, da es dem Politiker und Gelehrten gelingt, viele Kreise intellektuell anzusprechen: die Universitäts- und Kirchengelehrten durch seine respektvolle Auseinandersetzung mit der spätscholastischen Wissenschaft, die Florentiner Bürger mit der Einführung von Neuerungen in der Bildung (Berufung griechischer Dozenten und populärer Prediger), und politisch denkende Zeitgenossen durch seine Fachkenntnisse in Geschichte und Recht. Die beiden bekanntesten Traktate zur „Menschenwürde“ in der Renaissance wurden der von Giannozzo Manetti (1396-1459) über „Die Würde und Auszeichnung des Menschen“ und Giovanni Pico della Mirandola’s (1463-1494) Rede über „Die Würde des Menschen“. Vergleicht man Salutatis Denkweise mit den Argumenten des ebenfalls im frühen 15. Jahrhundert schreibenden Bartolomeo Facio (1400-1457), der von einem Benediktiner angeregt ebenfalls wie Manetti auf eine Schrift von Papst Innozenz III. „Über das Elend des Menschen“ antwortet, so wird der neue, humanistische Ansatz deutlich: Facios Rede über die Würde und des mittelalterlichen Papstes Diatribe sind im Grunde austauschbar, weil sie von einem statischen ontologischen Menschheitsbegriff ausgehen. Der Mensch ist in dieser Welt unvollkommen und elendig, hat aber das Versprechen des ewigen Glücks dank seiner Ausstattung mit Intellekt in einer unsterblichen Seele. Die Würde des Menschen besteht somit im Verlassen des Elends irdischen Lebens. Manetti dagegen arbeitet wissenschaftlich exakt die körperlichen Eigenschaften des Menschen aus, die ihn von Tieren abheben, sodann die Natur der menschlichen Seele, ganz im Geist der Lehre vom Menschen als Abbild Gottes aber unter Betonung des Willens, und schließlich das Zusammenwirken beider im Menschen als Menschen. Man darf das als Versuch der Überwindung sowohl des naturalistischen Reduktionismus als auch zur Bannung des Leib-Seele Dualismus lesen, Denkformen die immer dann auftauchen können, wenn die Rolle des Menschen in der Welt betont wird. Ganz im Einklang mit Salutatis Voluntarismus lehrt auch Manetti, daß der Mensch sein Potential schon im konkreten individuellen Leben ausnützen und optimieren kann. Das heißt auch, daß der Mensch Gestalter seiner sozialen und natürlichen Welt sein kann und darf. Giovanni Pico vereinfacht und radikalisiert diese neue Anthropologie. Er vereinfacht sie, indem er in seiner Rede das Ziel des Menschen in der Annäherung an Gott sieht und daher besonders auf die intellektuellen und kontemplativen Fähigkeiten hinweist. (Zu diesem Zweck entwirft er ein Programm der Übereinstimmung aller Philosophien und Theologien, das eigentliche Ziel der Rede.) Pico radikalisiert die humanistische Forderung zur Verwirklichung der Menschenwürde, indem er nun feststellt, daß der Mensch nicht exakt in der Mitte zwischen Engeln und Tieren angesiedelt sondern überhaupt nicht ontologisch determiniert ist. Der Wille zur Selbstbehauptung verschärft sich zur ontologischen Unbestimmtheit und zum Zwang und zur Aufgabe, seinen Platz im Kosmos selbst zu finden und einzunehmen. In der Bildsprache der Rede kann der Mensch sowohl ein Tier als auch Gottes Sohn sein. D.h. Vereinigung mit Gott bleibt das Ziel. Man darf daher als Interpretationsaufgabe vermuten, daß Salutatis Vertrauen in die Mitwirkung Gottes und die Autonomie des Menschen sich in der frühen Neuzeit aufspalten wird in protestantische Negation der Willensfreiheit, vereint mit Unterwerfung unter die Vorsehung, und in den cartesischen Dualismus, der im „ich denke“ den Garanten der Humanität sah, während die physische Natur, einschließlich des menschlichen Körpers, Objekt aber nicht mitwirkende Grundlage des Denkens wurde. Da für die Humanisten die ontologische Dignität des Menschen in der Selbst-Bestimmung des individuellen und sozialen Handelns lag, mußte in der frühen Neuzeit naturrechtliches Denken die Regeln erkunden.


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