Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance. Das 15. Jahrhundert. München: C. H. Beck, 2008. 270 S.
Print version in Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 32 (2008-2010) 63-70.
Endlich, so darf ich sagen, endlich haben wir eine Philosophiegeschichte der Renaissance von Eckhard Keßler, der jahrzehntelang dieses Gebiet der Geschichte der Philosophie in München gelehrt hat und dessen Schüler in vielen Ländern der Welt daran weiterarbeiten zu zeigen, daß die Zeit der Renaissance auch eine Philosophie und daß die Philosophie eine entscheidende Phase in der Renaissance hatte. Dieses Buch bespricht nur ein langes 15. Jahrhundert, nämlich vom Beginn des Humanismus am Ende des 14. Jahrhunderts bis zu Machiavelli und Pomponazzi. Humanismus, Neuplatonismus und Aristotelismus (in Italien) sind für ihn drei unterscheidbare, wenn auch miteinander verflochtene Strömungen des Philosophierens in der Renaissance, denen jeweils ein Drittel des Buches gewidmet ist. Der Humanismus wird an den Gründungsfiguren Petrarca und Salutati, am "Florentiner Bürgerhumanismus" von Leonardo Bruni bis Niccolò Machiavelli sowie an einigen Humanisten außerhalb von Florenz dargestellt. Der Florentiner Neuplatonismus beginnt mit dem Konzil von Florenz, hat seine Hauptvertreter in Marsilio Ficino und Giovanni Pico und endet im Skeptizismus von Gianfrancesco Pico. Der Aristotelismus knüpft am deutlichsten an der mittelalterlichen philosophischen Theologie an, hat sein Hauptzentrum in Padua und kulminiert wie zu erwarten in Pietro Pomponazzi. Soweit der Aufriß des Buches.
Kaum eine Studie zur Renaissancephilosophie kann umhin, die Gretchenfrage nach dem Säkularismus und der religiösen Einstellung der Humanisten und Philosophen zu stellen, zumal einige der bekanntesten Vertreter des 15. Jahrhunderts (Machiavelli und Pomponazzi) als Kritiker der Kirchen und Religionen notorisch geworden waren, während Ficino und die beiden Pico christliche Philosophen waren oder doch wenigstens sein wollten. Gerade diese Fragestellung erweist sich nach Keßlers Darstellung als die Frucht der philosophischen Bemühungen der Renaissance: die Neuzeit ererbt von ihr eine Dreiteilung von Offenbarungstheologie, Vernunftphilosophie und Erfahrungswissenschaften (S. 187), die forthin als selbstverständlich gilt und deren Paradoxien üblicherweise bei der Interpretation der Renaissancephilosophie an sie herangetragen werden. Dazu gehört auch, daß über kurz oder lang die Philosophie sich an einem Antagonismus zwischen Rationalität und Empirie abarbeitet, dabei die Themenbereiche des Glaubens für philosophisch irrelevant erklärt und der Theologie "die Kompetenz für den Bereich des natürlichen, dessen Kenntnis auf sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung beruht, abspricht" (S. 186). An dieser Stelle könnte erwähnt werden, daß die Disziplin der Religionsphilosophie ebenfalls aus dieser Spaltung (nämlich als ein Reparaturversuch) entstanden ist. Es ist offenkundig, daß seit dem Ende des 20. Jahrhunderts die Kompetenzbereiche des Glaubens und der Theologie in zahlreichen Gestalten gerade dorthin wiederkehren, wo die axiomatischen und empirischen Wissenschaften ihre größten Erfolge feiern, nämlich in der gegenwärtigen Biologie, Chemie und Physik, und das nicht nur in Feiertagsreden über ‚Glaube und Wissenschaft‘ sondern auch in der Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Auch aus diesem Grunde ist es lehrreich zu sehen, wie diese Dissoziation zustandegekommen ist.
In der Einleitung umreißt Keßler die Entstehungsbedingungen der Renaissancephilosophie in der Politik (Schwäche des Papsttums, Entstehung der Stadtstaaten, Territorialisierung der Politik), in der Ökonomie (die große Pest, Manufaktur, Handel, Entstehung des Bürgertums), in der Bildungsgeschichte (Universitäten als Bildungsinstitutionen für Laien, das humanistische Bildungsprogramm) und in der Geistesgeschichte im engeren Sinne, nämlich der Krise der mittelalterlichen philosophischen Theologie durch Voluntarismus und Nominalismus. Dieser dritte Umstand dominiert dann die Narrativität des restlichen Buches. Keßler macht drei Strömungen aus, welche die Philosophie und Theologie im 13. und 14. Jahrhundert in eine tiefe Krise gestürzt haben: der Averroismus, welcher um der Erkennbarkeit der strikten Kausalität in der Natur willen die Ewigkeit der Welt, Determinismus und Unpersönlichkeit für das Individuum und schließlich die doppelte Wahrheit vertreten mußte; zweitens als dessen Überwindung der Voluntarismus mit Betonung der absoluten Potenz Gottes, in dem "zwar dem christlichen Schöpfungsglauben philosophisch Genüge getan, aber gleichzeitig jeder wissenschaftlichen Erkenntnis der extramentalen Realität das Objekt entzogen" war (S. 13); drittens die Liaison des Voluntarismus mit dem logischen Nominalismus, wonach die Existenz einer logischen Begriffen entsprechenden und zudem kontingenten Realität unbeweisbar erscheinen mußte. Aus diesem Syndrom leitet Keßler die Kategorien ab, mit denen er die Geschichte der Philosophie des 15. Jahrhunderts beschreiben kann: nämlich als Bewältigung der Erkenntnisunsicherheit und Existenzunsicherheit durch Fokussierung auf den Menschen, Wiederherstellung der Einheit von menschlicher Existenz und Gotteserkenntnis und Verfeinerung der Naturtheorie und Erkenntnistheorie.
Francesco Petrarca reagiert auf die Krise des Mittelalters durch Wiederherstellung der Philosophie als Lebenskunst, welche mehr oder weniger glücklich zwischen der Gottesgewissheit und den Scheinsicherheiten der Logik navigiert und somit ein „handlungszentriertes Menschenbild“ (S. 24) entwirft, welches sich auf Geschichte und Rhetorik verläßt, in denen Erfahrung von Menschen und für Menschen faßbar ist. Die damit implizierte Betonung des Willens wird von Coluccio Salutati fortgesetzt, so daß der Voluntarismus Gottes in dem des Menschen abgebildet ist, so daß "Moralphilosophie anstelle der Metaphysik zur grundlegenden philosophischen Disziplin" wird (S. 28). Praktische Philosophie wird daher auch zur Philosophie schlechthin im sogenannten Florentiner Bürgerhumanismus, welcher an den Figuren Lonardo Bruni, Poggio Bracciolini, Giannozzo Manetti, Matteo Palmieri, Leon Battista Alberti, Cristoforo Landino, Angelo Poliziano und Niccolò Machiavelli dargestellt wird. Hier werden mögliche Ansätze zu einer Subjektphilosophie, welche persönliche Erfahrung intersubjektiv und historisch absichert (S. 33 f.) durch Skeptizismus eingeschränkt und durch Denkformen der Stoa, Epikureismus und generell antiker Quellen verfeinert, so daß bei Manetti der Mensch "als Einheit von Körper und Seele Schöpfer in dieser Welt, … der Vollender der Schöpfung selbst [ist], der, was Gott begonnen hat, durch Erkennen und Handeln zur Vollkommenheit bringt". (S. 38) Keßler übersetzt diese Rhetorik in eine Anthropologie, wonach "in diesem voluntaristischen Kosmos der Mensch nicht hilflos ausgeliefert ist und seine Selbstbehauptung nicht gegen eine ihm feindliche Umwelt … erstreiten muß,“ weil „die Verfaßtheit der Natur seinem Handeln entgegenkommt und sein geistiges Vermögen … sich im schöpferischen Tun des Menschen als Vermögen erweist, neue Ordnung zu stiften und damit die Ordnung der Natur zu vollenden" (S. 39). Zugleich entsteht eine konsensorientierte Ethik (Palmieri), wie sie einem Bürgertum passend erscheinen muß, die aber sofort bei Leon Battista Alberti zum Gegenstand der Satire und Kritik wird (S. 42 ff.). Denn die humanistische Rhetorik baut ein Menschenbild auf, das nicht nur aus Höhepunkten sondern viel öfter aus Katastrophen besteht. Herauskommt eine Existenzphilosophie, in der "der Mensch Herr der Zeit seines Lebens, also seiner Geschichte, ist und mit dieser Lebenszeit haushälterisch umzugehen hat" (S. 45) und in der "handwerkliches Tun, das nicht anders als moralisches Handeln Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ist, theoretisch zu reflektieren" ist (S. 47). Die Frage nach der Wahrheit zerläuft und verdichtet sich zugleich in die Frage, was es heißt, Mensch zu sein.
Die sich schon abzeichnende neue Phase der humanistischen Philosophie wird von Keßler unter Rückgriff auf die politisch-ökonomischen Entstehungsbedingungen damit erklärt, daß unter dem Prinzipat der Medici die Bürgerrepublik „nur noch eine historische Größe“ geworden war, so daß neue Ansätze, und das ist hier der Neuplatonismus, möglich wurden (S. 51 f., vgl. 101). Landino wird daher als einer der ersten das Lebensbild des Humanismus, einschließlich der Dichtungstheorie, die ja eine Schöpfungstheorie ist, mit platonischen Denkformen anreichern. Angelo Poliziano wird aufgrund vertiefter Kenntnisse der Literatur vor vorzeitiger Erstarrung in Klassizismus warnen (S. 56), aber er wird auch den Philosophiebegriff dem Platonismus annähern und zugleich eine philologisch-historische Interpretation des Aristoteles einfordern. Dennoch sieht Keßler in Poliziano das humanistische Postulat der konkreten Auseinandersetzung mit der Geschichte, in der der Mensch „seine Objektivität erfahren kann" (S. 55). Machiavelli setzt die Überprüfung moralischer Konzepte fort und ist daher "in der Kompromißlosigkeit der Analyse … radikaler und illusionsloser humanistisch als seine Vorgänger" (S. 57).
Die Methode dieser Geschichtsschreibung der humanistischen Philosophie basiert darauf, daß die aus der Krise der spätmittelalterlichen Philosophie resultierende Erkenntnisunsicherheit, Gottesferne und Willensbetonung in die Trias der Existenzunsicherheit, des Konsenses und der Historizität übersetzt wird. Wenn beispielsweise Poliziano eine genaue Lektüre des Aristoteles einfordert, dann scheint das so etwas wie Historizität zu implizieren, so daß der Begriff ’Historizität‘ im modernen Sinne sich als Kategorie der Interpretation des Humanismus anbietet. Historizität wiederum und Tatkraft im Verein mit Konsensbedarf bieten sich an, Geschichte und Rhetorik im exklusiv menschlichen Horizont zu lesen: wenn daher Cristoforo Landino Fragen des menschlichen Adels mithilfe antiker Quellen kontrovers diskutiert, so mag man vermuten, daß der Leser auf seine eigene "Lebenssituation und Erfahrung" zurückverwiesen und diese zugleich mitgeprägt werden soll (S. 52). Auch mag Polizianos Warnung vor einer Dogmatisierung des Florentiner Platonismus bedeuten, daß der „Gegenstand der Philosophie … nicht die ewigen Wahrheiten, sondern (…) die vom Menschen erlittene und gestaltete Geschichte" ist (S. 55). Das Problem ist, daß solche Begriffe von Geschichte, Leben und Erfahrung noch nicht im Humanismus der Renaissance vorkommen. Historische Projektionen fallen oft erst dann auf, wenn eine solche Projektion überraschend ist und nicht mit den eigenen Denkrahmen übereinstimmt. Die Interpretation des Humanismus mithilfe eines Begriffs von Geschichte als dem Inbegriff der Wahrheit (und zugleich als ihr Surrogat) ist viel zu einleuchtend, als daß sie der Projektion verdächtig sein könnte. Denn der moderne Mensch ist der existenziell im Handeln sich erfahrene und realisierende Mensch. Auf der anderen Seite ist diese Interpretation dadurch gerechtfertigt, daß genau jene Einsicht in die kontingente Situierung des Menschseins ihre genetische Voraussetzung darin hat, daß ewige Wahrheiten, Tugenden, ja die gesamte Menschenwürde bei den Humanisten von Petrarca bis Machiavelli nach allen Seiten hin kritisch betrachtet wurde. Deshalb kann Keßler Machiavelli vor der Entrüstungsgeschichte in Schutz nehmen (vor jener Interpretation, die immer noch glaubt, Machiavelli habe die Abschaffung der Tugend betrieben) und feststellen, daß seit Machiavelli politische Theorie "der Aufdeckung von kausalen Zusammenhängen und Zweck-Mittel-Relationen" dient, und somit "eine auf Erfahrung beruhende Technik des situationsgemäßen politischen Handelns" bietet (S. 58). Allerdings ist es nicht das, was Machiavelli sagt, sondern was wir aus ihm lernen können. "Verantwortung nicht nur für sein eigenes Leben, sondern auch für den Bestand der Gemeinschaft … und das daraus entspringende existenzielle Bedürfnis nach situationsgerechter Handlungsorientierung" (S. 61) - das beschreibt vielleicht die Situation des Menschen im Kommunitarismus, konnte aber wohl in diesen Kategorien nicht von den Florentinern gedacht werden. Entscheidend ist, daß die Humanisten Tugenden, Recht, Politik, Anthropologie und was daraus folgt in das Zentrum ihrer philosophischen Bemühungen gestellt haben. Keßlers Leitmotiv, nämlich die aus Nominalismus und Voluntarismus gewonnenen Einsichten in die Ungewißheit und das Wagnis der Humanität zu übersetzen, ist also fruchtbar, indem es als historiographische Sonde in den Textbestand und als Anwendungsprinzip für die Moderne dient.
Das gilt dann selbstverständlich auch für die philosophischen Bemühungen des "höfischen Humanismus" (S. 62), also der Denker, die von adligen Mäzenen abhängig waren. Die höfische Situation erlaubt es, anthropologische Fragen nach Adel, Erziehung und Politik abzuhandeln, so daß am Ende die Theorie des Fürstentums bei Giovanni Pontano in einer Analyse der Herrschaft mündet, die mit dem aus dem Bürgerhumanismus erwachsenen Principe des Machiavelli konvergieren kann. Die Erziehungstraktate rezipieren nicht nur die neu aufgefundenen Quintilian und Plutarch, sondern thematisieren vor allem den Zusammenhang der freien Künste mit der christlichen Tradition und der Entwicklung des Individuums, so daß aus den studia humanitatis am Ende ein Ausbildungsprogramm entstehen kann, das humanistisch genannt werden und die Vorstellung von Individuum und Bildung bis in das 20. Jahrhundert hinein prägen wird. Der höfische Humanismus hatte einen Knotenpunkt in Venedig mit seinem Zugang zu griechischen Quellen, in Pavia als Anlaufstelle für Studenten aus dem Norden und bringt eine erste Rehabilitation des Epikureismus; Rom wird humanistisch unter Papst Nikolaus V. und zieht nicht nur orthodoxe Denker an, und im Süden engagiert das Haus Aragon Humanisten und begründet damit den Ruhm Neapels für die Philosophie bis ins 20. Jahrhundert.
Die höfischen Humanisten sind zumeist Wanderhumanisten, und von ihnen ist selbstverständlich Lorenzo Valla (Rom, Pavia, Neapel, Rom) der bedeutendste. Sein Beitrag zur humanistischen Philosophie besteht in einer „Diskursänderung“ (S. 73): „Nicht die Philosophie als Theorie des begrifflich Allgemeinen ist … Grundlage und Hüterin der Wahrheit, sondern die Geschichte. … Die Geschichte … enthält in der Beispielhaftigkeit der in ihr dargestellten Prozesse … ein Allgemeines, das zugleich Konkretheit und allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen kann.“ (S. 74 f.) Ein „historisch-narratives Universale“ erlaubt es Valla, in der gesprochenen Sprache faktische Wahrheit aufzudecken, sei es in der Konstantinischen Schenkung, sei es im Text der biblischen Offenbarung und schließlich beim „Umpflügen“ der Logik. Denn auch in der Sprache der Logik kommt es Valla auf den Realitätsbezug an (der in der scholastischen, letztlich nominalistischen Strömung unbegreifbar geworden war), nur daß hier keine Entsprechung von Sachen und Wörtern mehr erwartet wird sondern -- auf einer Ebene, die zugleich metasprachlich und menschlich erscheint -- „die Bestimmung der Grenzen der logischen Argumentation und ihre Integration in eine allgemeine Diskurslehre“ (S. 79). Auf der Seite der Erkenntnis der Welt ergibt sich in dieser Interpretation, daß Begriffe gar nicht für etwas Extramentales stehen, sondern „für jene vorbegrifflichen Inhalte, die in den übrigen ‚Sinnen‘ gegeben sind. Ein Wahrheitsanspruch kann daher nur erhoben werden, wenn und insofern begriffliche Aussagen ‚sinnlich‘ eingeholt werden können“ (S. 79). Was wie ein großer Schritt in Richtung empirisch verifiziertem Rationalismus aussieht, zeitigt in der Freiheitsdiskussion das beunruhigende Ergebnis, „daß aller begrifflichen Unvereinbarkeit zum Trotz eine reale Aufhebung der Freiheit des menschlichen Willens mit der Güte Gottes unvereinbar ist“ (S. 83). Beunruhigend ist das deshalb, weil in Valla – ante litteram – nachkartesischer Intuitionismus mit nachreformatorischem Fideismus verschwistert zu sein scheinen. Konnte Valla soetwas denken? In diesem Falle bin ich geneigt ja zu sagen. Die kühnen Wort- und Sachanalysen Vallas fordern allerdings kühne Interpretationen, d.h. solche, die sich nicht an vorgegebene Epochenrahmen halten.
Platon schien den Humanisten zunächst die Erwartungen an eine Philosophie des guten Lebens und der schönen Sprache zu bedienen, aber der entscheidende Impuls zur Entstehung des Renaissanceplatonismus kam durch das Auftreten von Georgios Gemistos Plethon beim Konzil von Florenz 1439: Er löst, indem er „an den bereits bestehenden humanistischen Platonismus anknüpft“ (S. 99), die Kontroversen um den Vorrang Platons oder Aristoteles‘ und (damit z.T. überschneidend) um Heidentum und Christentum aus. Das entscheidend Neue im Angebot des Neuplatonismus war überraschenderweise nach Keßler die Lösung des Nominalismus-Problems durch Historisierung der ewigen Wahrheiten: die platonisierende Anthropologie verortet den Menschen im Kosmos, entindividualisiert ihn aber zugleich und scheint ihn von der historischen Erfahrung zu trennen. Der Nominalismus gestand aber dem Allgemeinen keine Erkenntnisfunktion zu, sondern nur dem Einzelnen; daher der Charme der Rhetorik und der Historie. Plethons Konstruktion der "urspünglichen Philosophie" bot eine zeitliche Erstreckung der Offenbarung und der Emanation an, durch die die Historizität der Wahrheit für das humanistische Denken wiedergewonnen war (S. 100 f., vgl. 106 f.).
Dieses Programm wird dann von Marsilio Ficino ausgeführt, der ebenfalls wie die Humanisten Wahrheit nicht mehr in der Übereinstimmung zwischen Theorie und Einzeldingen sucht sondern nun "darin, daß sie Abbild jenes göttlichen umfassenden Einen ist, das mit der Wahrheit selbst identisch ist" (S. 105). Entsprechend dem interpretatorischen Prinzip liegt die Leistungsfähigkeit der ficinianischen kosmologischen Epistemologie darin, daß „das Nominalismusproblem gegenstandslos [wird], insofern die größere Allgemeinheit der Universalien gerade nicht mehr ihre Realitätsferne, sondern ihre größere Nähe zum ursprünglich Seienden bezeugt" (S. 105). Der nominalistisch beeinflußte Humanismus kann sich offenbar nun leisten, Realität so zu definieren, daß sie mit der Wahrheit ein Kontinuum bildet. Auf diese Weise erfüllt Ficino auch die Ansprüche an das aktive Leben und an die Frömmigkeit und Politik umfassende Sinngebung. Gleichzeitig gelingt es ihm, Aristoteles in die platonische Tradition zurückzuholen, indem der menschliche Geist sowohl die Welt als "Welt für den Menschen" konstituiert, als auch "die apriorische Einholung der adaequatio rei et intellectus … und die Rückgewinnung der Identität von Denknotwendigkeit und Seinsnotwendigkeit" zu Stande bringt (S. 110 f.). Auch dies ist eine erfrischende, sozusagen unorthodoxe Interpretation des Renaissance-Platonismus. Der Florentiner Platonismus ist nicht mehr ‚die Renaissancephilosophie‘ im Unterschied zum Humanismus, sondern die Fortsetzung des Humanismus neuplatonischen Mitteln.
Giovanni Pico erweitert die prisca theologia zu einem Synkretismus, der dadurch definiert wird, daß in ihm alle Aussagen auf ihren "vorsprachlichen Ursprung" zurückgeführt werden er mit der universalen Wahrheit identisch ist (S. 119). Daraus erklärt sich dann auch Picos Wahl desjenigen Textes, der am ehesten Quelle aller wahren Philosophie zu sein verspricht, den Bericht der Genesis. Seine Divergenzen mit Ficino erklärt Keßler aus dem gemeinsamen Interesse, den graduellen Aufstieg zu Gott in der Einheit von Lebensführung und Wahrheitsfindung darzustellen (S. 122). Die weiteren Folgen in der Renaissancephilosophie der Liebe lassen sich ebenfalls in diesem Spannungsverhältnis zwischen Universalität der Wahrheit und kosmischer Epistemologie, die "Mathematisierung des Kosmos" (S. 133) darstellen. Agostino Steucos philosophia perennis führt alle diese Tendenzen so zwingend zusammen, daß aus der intendierten Gleichwertigkeit von philosophischer Theologie und Philosophie deren wechselseitige Befreiung resultiert und später zur Legitimation des Eklektizismus gebraucht werden kann (S. 135). Gianfrancesco Pico scheint das verstanden zu haben und wendet daher den Synkretismus seines Onkels in eine Kritik aller Wissenschaft, sofern sie nicht göttlich legitimiert ist, mit der Absicht der "generellen Zerstörung der heidnischen Philosophie" (S. 137). Beiläufig macht er damit das skeptische Instrumentarium philosophisch wirksam.
Auch der dritte Zweig der Renaissancephilosophie, der Paduaner Aristotelismus, ist ein legitimes Kind der späten Scholastik und des ihn kritisierenden Humanismus. Mit dessen Impuls und mit Hilfe des Neuplatonismus verläuft ein "sich zunehmend radikalisierender Prozeß der Transformation des Aristotelismus" (S. 139). Im Zentrum der Bemühungen von Biagio Pelacani, Paolo Veneto, Gaetano da Thiene, Nicoletto Vernia, Agostino Nifo und schließlich Pietro Pomponazzi stand die Aufgabe, die Wissenschaftstheorie des historischen Aristoteles mit den Fortschritten der Scholastik, den Einsichten des Humanismus, der Epistemologie des Neuplatonismus und hier und da auch mit der christlichen Dogmatik in Übereinstimmung zu bringen. Der historische Aristoteles, das ist die Innovation durch den Humanismus, daß nämlich der Text des Aristoteles auf innere Stimmigkeit gelesen werden sollte, was dazu führte festzustellen, daß seine Metaphysik, seine theoretische Physik, seine empirische Physik und seine Epistemologie keineswegs nahtlos zusammenhängen. Herauskam eine Emanzipation der Schulphilosophie vom Text des ‚Philosophen‘. Keßler beschreibt genüßlich, wie aus der Physiologie der Erkenntnis der Gegensatz zwischen materialistischem Monismus und Leib-Seele-Dualismus entstand (Pelacani, S. 144), mit wie viel Flexibilität das Gespenst des Averroismus (die Einheit des Intellekts) gebannt wird, etwa indem zwar ein einheitlicher Intellekt für alle Menschen, aber eine Vielzahl von Universalienerkenntnissen der Individuen erwogen wird (Veneto, S. 149), wie Gaetano auf Kosten der Naturphilosophie die menschliche Seele dem Bereich des Übernatürlichen zuweist (S. 152), wie Vernia schwankt und dabei die Variabilität der antiken Aristoteleskommentare entdeckt (S. 155 f.), wie Nifo die averroistische Theorie des intellectus possibilis und agens in der Weise mit dem Neuplatonismus verknüpft, daß sowohl ein universales Prinzip der Erkenntnis angenommen werden darf als auch die Individualität der menschlichen Erkenntnis mithilfe von eingeborenen Ideen (S. 164 f.) und wie er zugleich die Wissenschaftsmethode des 16. Jahrhunderts (regressus-Lehre, S. 168 ff.) vorbereitet. Die genannten und noch einige weitere Autoren werden hier ausführlich und zusammenhängend diskutiert.
Abschließend finden wir in Pietro Pomponazzi das Zusammenlaufen aller dieser Fäden, weil er sowohl die Leistungsfähigkeit der Naturphilosophie auch die Physiologie und Epistemologie der Erkenntnis und deren Relation zur christlichen Offenbarung diskutiert. Pomponazzi unterstreicht Kausalität als Erklärungsprinzip der Natur und etabliert in Abwehr gegen okkultistische Bestrebungen "eine prinzipiell empirische, von den Sinnen ausgehende Wissenschaft" (S. 176). In demselben Sinne versteht er, zwar unter Berufung auf die Stoa aber aus methodischen Gründen, das Schicksal streng deterministisch und handelt sich die große Frage nach dem Funktionieren der Seele im Menschen ein. Indem er "die Psychologie als Teil der in ihren Grenzen sich autonom erklärenden Naturphilosophie reklamiert" (S. 183), bearbeitet er die für das Verhältnis von Theologie und Philosophie und der konkurrierenden philosophischen Methoden entscheidende Frage nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele in der Weise, daß für die Beschreibung des natürlichen Erkenntnisaktes es keinen Grund zur Annahme eines immateriellen Intellektes gibt (S. 182 f.).
Das Buch kann als Einführung dienen, was dadurch betont wird, daß jeder genannte Autor in einer langen Fußnote mit Bibliographie vorgestellt wird. Im allgemeinen sind die Literaturverzeichnisse auf dem aktuellen Stand, gerade deshalb darf man sich über einige Lücken wundern. Auch in dem Aufriß der Erforschung der Renaissancephilosophie kann man neuere Arbeiten vermissen, obwohl der Autor selbst dazu beigetragen hat. Man kann es gar nicht hoch genug schätzen, daß in diesem Buch keine Thesen heruntergebetet werden, die man in Spiegelstrichen zum Auswendiglernen aufreihen könnte ("Petrarca denkt …"; "Ficino glaubt …"; "Pico behauptet …"), wie Philosophiegeschichte üblicherweise dargestellt wird, so als wollte man Studenten davon überzeugen, daß im Vergleich zu Philosophiegeschichte Buchhaltung spannend ist. Vielmehr hat jeder Gedanke, den Keßler darstellt, einen Kontext und eine Begründung – in den Quellen, im Verlauf der Geschichte dieses Denkens und vor allem im Autor selbst. Ein Muster dafür, daß Philosophiegeschichte ein Philosophieren ist.
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1 comment:
Genial brief and this post helped me alot in my college assignement. Thank you as your information.
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